Aufstehen

Ulrike Dotzer: Aufstehen für Erinnerungskultur. Ein Platz für die Matrosen.

Auf Kiel rollt die Revolutionswelle zu. „Revolution“ ist in diesen Tagen ein Wort voll positiver Strahlkraft. Das ist in Deutschland neu. Bürger und Medien ziehen mit. Woche für Woche veröffentlichen die Kieler Nachrichten Neuigkeiten zum 100. Jahrestag des Aufstands. In der „taz“ schlug ein Autor gar vor, im November einen Feiertag zu Ehren der Matrosen einzuführen, statt den Reformationstag wiederzubeleben. Ein Festprogramm wird die Rebellen ehren, Würdenträger werden sprechen. Das Drama erobert die Bühne(n) und die Fernsehschirme von NDR und ARTE.

So ändern sich die Zeiten. Ich erinnere mich noch an den Radau um die Aufstellung des Denkmals zu Ehren der Matrosen, Anfang der 80er Jahre. Der Magistrat war tief zerstritten. Die CDU-Ratsleute blieben der Einweihung fern. Roh und brutal fanden die meisten das Kunstwerk im Ratsdienergarten – und wer war man, dass man Meuterern ein Denkmal setzte?! An der Kieler Uni, an der ich in dieser Zeit Geschichte studierte, kam das Thema damals in Lehrveranstaltungen gar nicht vor. Zwar gab es einen Fachmann für Marine- und Militärgeschichte, doch wo so viel aufgeregte Politik im Spiel war, waltete offenbar professorale Vorsicht.

Die Linken und die Rechten, sie konnten sich nicht einigen. Dieser Zwist scheint heute überwunden. Die „Meuterei“ wich der „Zivilcourage“. Als Erkenntnis der historischen Forschung gilt jetzt: Kiel schrieb mit diesem Aufstand Geschichte. Untertanen emanzipierten sich zu Bürgern. So, wie der Sozialdemokrat Rolf Fischer nicht müde wird zu sagen: „Die Kieler Ereignisse waren der Beginn der Demokratie in Deutschland. Ohne diese Rebellen gäbe es keine deutsche Republik und keine parlamentarische Verfassung.“ Fischer hat kräftig daran mitgewirkt, die Aufrührer ins Licht zu holen. Was hat sich geändert? Sind die Linken stärker geworden und die Rechten schwächer? Das doch wohl nicht. Offenbar erkennt die Gesellschaft die Bedeutung dieses geschichtlichen Ereignisses erst aus der Distanz. Der Matrosenaufstand: Ein Beispiel dafür, dass historische Wahrnehmung dem Wandel unterliegt und niemals stillsteht – und dass sie auch der Reflex ihrer jeweiligen Epoche ist. Auch die Admiralität der Bundesmarine, für die die Dinge am kompliziertesten sein dürften, bewertet den Aufstand von einst heute als angemessen. Zu sehen und zu erleben ist das in unserem NDR-ARTE-Film: „1918 Aufstand der Matrosen“.

Jede Zeit braucht Vorbilder. Wir entscheiden immerzu, woran und wie wir erinnern wollen. Wer hätte sich 1980 vorstellen können, dass das Förde-Ufer heute ohne den Namen „von Hindenburg“ auskommen würde? Bis tief in die reifen Jahre der Bundesrepublik strahlte der Glanz des Monarchisten an der Spitze der Weimarer Demokratie. Dann ging die Diskussion los; der General behielt zwar seinen Platz in der Geschichte, aber er muss nun ohne öffentliche Würdigung auskommen, an der Kieler Förde jedenfalls. Blaue Jungs hingegen eroberten den „Platz der Matrosen“ am Hauptbahnhof: junge Männer, deren Namen wir zumeist nicht kennen. Aber wir feiern sie in diesem Jahr. Und das ist gut so.


Über die Autorin: Ulrike Dotzer – verantwortet als Redakteurin das Doku-Drama „1918. Aufstand der Matrosen“, das am 30. Oktober auf ARTE und am 4. November im NDR zu sehen ist. Sie studierte in Kiel und in Göttingen Geschichte und begann ihre journalistische Laufbahn bei den Kieler Nachrichten. Für das Fernsehen entwickelt und begleitet sie Dokumentationen mit journalistischen und auch geschichtlichen Themen.

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