Aufstehen

Julia Buchholz: Aufstehen für eine gemeinsame Erinnerung!

Am Abend des 3. November 1918 ziehen mehrere tausend Menschen durch die Kieler Innenstadt. Der Demonstrationszug passiert den Hauptbahnhof, die Holstenstraße und die Brunswiker Straße. Das Ziel der aufgebrachten Massen ist die Marinearrestanstalt, wo dutzende Matrosen wegen einer wenige Tage zuvor in Wilhelmshaven begangenen Befehlsverweigerung in Haft sitzen. Ihnen droht die Todesstrafe. Das wollen die Demonstranten auf jeden Fall verhindern: Sie stürmen das Gebäude; es fallen Schüsse. Aus einem spontanen Aufruhr wird eine Revolution – ein Umbruch, der die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland entscheidend prägen wird. Welche Gedanken müssen den Matrosen und Arbeitern vor beinahe einhundert Jahren durch den Kopf geschossen sein? Was trieb diese mutigen Frauen und Männer an, ihr eigenes Leben und ihre Freiheit aufs Spiel zu setzten? Die Hoffnung auf einen politischen Neubeginn ohne Krieg und Hunger? Der Wunsch nach Mitbestimmung? Das Ende der Jahre andauernden Entbehrungen?

Das Bronzerelief in der Feldstraße 5 in Kiel, das heute an das damalige Ereignis erinnert, bleibt uns die Antworten schuldig. Beinahe einhundert Jahre später stelle ich mir die gleichen Fragen jeden Tag. Denn das Erinnern an die Novemberrevolution 1918/19 und den Kieler Matrosenaufstand ist ein wichtiger Teil meines beruflichen Alltags. Das ist nicht immer ganz einfach. Denn streng genommen ist eine Erinnerung die Wiederbelebung früherer Ereignisse im Geiste. Und wirklich erinnern könnten sich darum eigentlich nur diejenigen, die tatsächlich dabei waren.
Aber keiner der Beteiligten kann uns noch erzählen, wie sich das Trommeln und Pfeifen des Stadtalarms anhörte, mit dem man am Nachmittag vergeblich versuchte die Matrosen auf die Schiffe zurückzubeordern, um sie an einer Demonstration zu hindern. Keiner kann uns mehr den Anblick beschreiben, der sich den Zeitgenossen bot, als zwei Tage später auf allen im Hafen liegenden Schiffen rote Fahnen wehten.

Aber nur, weil es keine direkte Erinnerung mehr gibt, sind die historischen Ereignisse nicht dem Vergessen preisgegeben: Mithilfe überlieferter Quellen kann persönliche Beobachtung durch historische Kenntnisse ersetzt werden. Doch das Wissen über die historischen Ereignisse, die zur Etablierung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland führten, kann nur zur Grundlage von Erinnerung werden, wenn es verständlich und aus verschiedenen Blickwinkeln vermittelt wird. Zwei Orte, an denen die Erinnerung an den Kieler Matrosenaufstand und an die Novemberrevolution lebendig werden, sind die beiden Ausstellungen, die anlässlich des hundertjährigen Jubiläums entwickelt worden sind. Während ich die Wanderausstellung des Landes Schleswig-Holstein Revolution 1918 – Aufbruch in Schleswig-Holstein vornehmlich organisatorisch betreue, führe ich im Schifffahrtsmuseum vor allen junge Besucherinnen und Besucher durch die Ausstellung. Anhand der unterschiedlichen Exponate erzähle ich hier die Geschichte der Menschen und von den Motiven, die ihr Handeln begründeten.

Ich betone immer, dass Geschichte keine chronologisch aufgebaute Aneinanderreihung zwangsläufig eintretender Ereignisse ist. Kaum jemand hätte sich zu Beginn des Krieges vorstellen können, dass in Kiel, dem bedeutenden Marine- und Rüstungsstandort, ein Aufstand der Matrosen und Arbeiter binnen kürzester Zeit zu einer Massenbewegung heranwachsen würde. Auch wenn der Zufall hierbei eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat, ist es zuerst die außerordentliche Leistung der kleinen Leute im Norden des Reiches gewesen, an die wir heute erinnern. Mein Ziel ist es, auf ganz unterschiedlichen Wegen möglichst vielen Menschen in ganz Schleswig-Holstein die historischen Ereignisse nahe zu bringen und sie fester im kollektiven Gedächtnis der Menschen zu verankern.

Mehr Informationen:
www.aufbruch1918.de


Über die Autorin: Julia Buchholz – Jg. 1988, Historikerin und Museumspädagogin. Anlässlich der Sonderausstellung zur „Stunde der Matrosen“, die im Kieler Schifffahrtsmuseum gezeigt wird, hat sie ein umfangreiches Begleitprogramm konzipiert, das seit Mai 2018 bereits von hunderten Schülerinnen und Schülern aus ganz Schleswig-Holstein wahrgenommen wurde. Seit Juni 2018 koordiniert sie die Wanderausstellung „Revolution 1918 – Aufbruch in Schleswig-Holstein“, die noch bis 9.11.2018 in Husum, Neumünster, Lübeck und Kiel Station macht.

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